Vielfache Ungerechtigkeit

Erinnern Sie sich noch an den Beginn der Covid-Pandemie bei uns? Die geflügelte und exzessiv benutzte Phrase lautete damals “wir sitzen alle in einem Boot”. Es hat sich recht schnell herausgestellt, dass wir zwar möglicherweise alle in einem Boot sassen, aber nicht in einem. Also nicht in demselben. Während, um im Bild zu bleiben, die Reichen in ihrer Luxusyacht weilten, versuchten sich die Armen auf Holzbarken halbwegs über Wasser zu halten (oft genug ohne Erfolg).

Auch in einer anderen Krise wird häufig das “Boot” bemüht, in dem wir uns angeblich befinden sollen. Diesmal aber gar nicht erst, um eine Solidarität vorzugaukeln, sondern um eine Abgrenzung zu schaffen. Europa als Boot in unsicheren Gewässern, das ohnehin schon “voll” ist und daher keinesfalls mehr “illegale Flüchtlinge” aufnehmen kann [*].

Und schliesslich wird die Bootsmetapher gern auch in Bezug auf ein aktuelles Thema benutzt, das nichts mit diesen Krisen zu tun zu haben scheint. Die Klimakrise beträfe uns doch nun wirklich alle, wie wir schon daran merkten, dass Dürren und resultierende Ernteausfälle und Überflutungen nicht auf den globalen Süden beschränkt bleiben, sondern auch bei uns zu unleugbaren Tatsachen werden. Doch hängt das Bootsbild auch hier schief und das sogar noch in wesentlich stärkeren Massen als in der Coronakrise.

Um zu verstehen, wie diese Themen miteinander verwoben sind, müssen wir einen Blick auf die Flüchtlingskrise werfen. Denn derzeit geht in Europa wieder ein Gespenst um, das Gespenst der “Masseneinwanderung”, und viele fühlen sich ins Jahr 2015 zurückversetzt, einem, wie wir im Nachhinein wissen, katastrophalen Jahr. Aber nicht etwa, wegen der vielen Menschen, die nach Europa kamen und z.B. in Deutschland zunächst offen aufgenommen wurden. Wer erinnert sich nicht an die Worte von Bundeskanzlerin Merkel: «Wir schaffen das!» Nein, das Problem entstand, weil die Flüchtlingskrise von rechts instrumentalisiert wurde, um Fremdenfeindlichkeit und Verlustängste zu schüren. Bei einer nüchternen Analyse der Auswirkungen wird deutlich, dass diese “Massen” keineswegs zu einem wirtschaftlichen Niedergang geführt haben, im Gegenteil (siehe z.B. [1, S. 132ff] und die dort zitierten Quellen).

Auch jetzt kommen wieder viele Flüchtlinge zu uns. Diesmal vor allem aus der Ukraine und aus Afrika. Das führt bis weit in die bürgerliche Mitte zum üblichen Reflex, nämlich diese Menschen in vermeintlich «gute» (weiss, christlich) und «schlechte» (dunkelhäutig, muslimisch, jung) Flüchtlinge zu kategorisieren. Und voilà, acht Jahre später ist das Gespenst wieder da und zwingt sogar eine grüne Aussenministerin, einem europäischen “Asylkompromiss” zuzustimmen. Und das, obwohl dieser weder das Migrationsproblem löst (was auch immer man darunter verstehen mag), noch irgendeine moralische Grundlage besitzt. Aber eines ist klar: Das Boot, so wird nahegelegt, sei wirklich so voll, dass wir endlich mit einer noch stärkeren Abschottung (d.h. mit unüberwindbaren Grenzen) reagieren müssen.

So schlimm diese Entwicklung ist, der Kern des Problems liegt tiefer. Die durchaus verdienstvollen Flüchtlingskonventionen (UN-Flüchtlingskonvention, Zusatzprotokoll) passen nicht mehr zur Welt des 21. Jahrhunderts. Schon die völlig verkürzte Definition des berechtigten Flüchtlingsbegriffs lässt die heutigen Fluchtgründe völlig ausser Acht. Diese liegen nämlich häufig direkt oder indirekt in der Klimakatastrophe, die schon deshalb nicht als direkter oder indirekter Asylgrund aufgeführt wird, weil sie in den 1950er Jahren unbekannt war.

Wie absurd die Vorstellung ist, viele Flüchtlinge seien nur “Wirtschaftsflüchtlinge” und damit nicht asylberechtigt, wird deutlich, wenn man sich das sechsfache Unrecht vergegenwärtigt, das Menschen in diesen Weltregionen erfahren:

  • Nachwirkungen des Kolonialismus: Praktisch alle Ursprungsländer waren einst Teil von Kolonien und müssen bis heute mit den Auswirkungen dieser Unterjochung kämpfen (siehe z.B. Bilanz des Kolonialismus und Affect and Colonialism Web Lab). Der Weg aus dem Kolonialismus wurde den entstehenden neuen Nationen maximal schwer gemacht.
  • Historische Benachteiligung durch Welthandel: Auch nachdem sie die Unabhängigkeit erlangt hatten und international zumindest formal als gleichberechtigte Staaten anerkannt worden waren, blieben sie aufgrund ihrer hohen Verschuldung in extremer Abhängigkeit von den reichen Industriestaaten. Wenig industrialisiert, dienten sie den Kolonialmächten als Produzenten von Agrarprodukten und Rohstoffen (zu denen bekanntlich lange Zeit auch Sklaven gehörten). Daher konnten sie lange Zeit nur mit diesen am Welthandel teilnehmen. Doch als die Preise für diese Güter in den 60er und 70er Jahren drastisch sanken, brachen die Einnahmen ein. Gleichzeitig mussten diese Länder für ihre Produktion teure Industriegüter (z.B. Traktoren) importieren, was das Handelsbilanzdefizit weiter erhöhte. So wuchsen die Verschuldung und die damit verbundenen hohen Zinszahlungen. Letztere schmälerten nicht nur den Spielraum für wichtige Infrastrukturmassnahmen und Ausgaben etwa im Bildungsbereich, sondern bedeuteten oft neue Schulden, nur um zahlungsfähig zu bleiben (siehe hierzu beispielsweise [2, S.142ff] ).
  • Aktuelles globales Finanzsystem: Die globale Finanzarchitektur und die Geldströme werden von den Institutionen des reichen Westens – in erster Linie von den USA – bestimmt. Die Wirtschaftskrise von 2008 traf die Länder des globalen Südens hart, da die Nachfrage aus den reichen Ländern sank und in der Folge die Preise fielen [3]. Sie mussten sich daher noch stärker über Kredite finanzieren, was damals kein Problem war, da die grossen Zentralbanken (Fed, Europäische Zentralbank etc.) die Zinsen immer weiter senkten und somit immer mehr “billiges Geld” zur Verfügung stand. Die gleichen Zentralbanken reagierten jedoch mit Leitzinserhöhungen, als die Inflation stark anstieg. Dadurch ist die Zinslast der ärmsten Staaten (fast alles ehemalige Kolonien) so stark gestiegen, dass z.B. das lange Zeit vorbildliche Ghana im Jahr 2022 ca. 28% seiner Staatseinnahmen an ausländische Schuldner zahlen muss, Angola sogar 31% (Berechnung der NGO Debt Justice). Aufgrund wieder steigender Zinsen dürfte der Anteil aktuell noch höher liegen.
  • Macht in der Regulierung des Handelssystems: Die Entscheidungen in den globalen Handels- und Finanzinstitutionen wie WTO und Weltbank werden intransparent und undemokratisch getroffen. Dies führt zu sehr unausgewogenen Handelsregeln, die den Volkswirtschaften des globalen Südens schaden [4,5]. Bemerkenswert ist, dass in der WTO ganze Regionen von den entscheidenden Prozessen der Vor- und Parallelverhandlungen im “Green Room” ausgeschlossen sind [6,7].
  • Auswirkungen des Klimawandels: Zahlreiche Studien, aber auch für alle sichtbare katastrophale Ereignisse belegen: Der globale Süden ist und wird von der Klimakatastrophe am stärksten betroffen. Die Folgen sind hinlänglich bekannt: Extremwetterereignisse wie Hitzewellen, Dürren und andererseits grossflächige Starkniederschläge mit Überschwemmungen. Letztere werden zusätzlich durch den Anstieg des Meeresspiegels ausgelöst, der in Zukunft ganze Küstenregionen dauerhaft unbewohnbar machen wird.
  • Verursachung des Klimawandels: Dabei haben gerade diese betroffenen Staaten am wenigsten zur Ursache des Klimanotstands beigetragen. Sowohl ihr historisch akkumulierter als auch ihr aktueller CO2-Fussabdruck ist oftmals um Grössenordnungen kleiner als jener der reichen Industrieländer.

In Anbetracht der aktuellen Diskussion um Flüchtlinge lohnt es sich, besonders die letzten beiden Punkte noch einmal hervorzuheben. Im März dieses Jahres erschien mit dem Climate Inequality Report [8] eine detaillierte Analyse der Ungerechtigkeit, deren moralischer Impetus für eine viel stärkere Unterstützung der Entwicklungsländer und der dort lebenden Menschen eindeutig ist.

Ein paar Diagramme daraus illustrieren eindrücklich, wie weit unsere Wahrnehmung des Treibhausgasproblems von den jetzt bereits bestehenden Folgen entfernt ist. So machen die Sub-Sahara-Länder (Bevölkerung 1.1 Milliarden) gerade einmal 4% der seit 1850 kumulierten CO2-Emissionen aus, im Vergleich zu 22% von Europa (Bevölkerung 742 Millionen) und 27% von Nordamerika (Bevölkerung 579 Millionen). Darüber hinaus liegen die ehemaligen Kolonien deutlich näher am gerecht verteilten CO2-pro Kopf Verbrauch, der noch mit dem 1,5°C Ziel vereinbar ist als wir, die wir um mindestens eine Grössenordnung darüber liegen (Abbildung unten).

Kumulierte historische CO2-Emissionen vs. verbleibende Kohlenstoffbudgets im Jahr 2020 (aus [8] )
tCO2e/Kopf pro Jahr nach Region vs. verbleibende Budgets für 1,5°C, 2019 (aus [8])

Ebenso erschreckend ungerecht sind die Auswirkungen des vom Menschen verursachten Klimawandels. Während wir uns um Gletscher und Skigebiete in den Alpen sorgen, treffen fast alle negativen Folgen die armen Länder viel härter als uns reiche. Sie müssen mit einem deutlichen Rückgang der Agrarproduktivität und einer stark erhöhten Hitzesterblichkeit rechnen (Abbildungen unten).

Festgestellte regionale Auswirkungen des Klimawandels auf die landwirtschaftliche Produktivität weltweit (1961-2015) (aus aus [8])
Räumliche Verteilung der prognostizierten hitzebedingten Sterblichkeit in der Welt im Jahr 2100. Man beachte, dass viele einkommensstarke Länder im Norden aufgrund des geringeren Auftretens von extremen niedrigen Temperaturen positive Auswirkungen auf die Sterblichkeit erfahren werden. (Aus [8])

Das alles mag statistisch abstrakt erscheinen und uns weniger berühren als der Absturz eines Bergsteigers im Himalaya oder der Untergang eines U-Bootes bei der Untersuchung der Titanic. Dahinter stehen aber Einzelschicksale von hungernden Müttern, durstigen Vätern und kranken Kindern ­- von Menschen, die der unverschuldeten Armut in ihrer Heimat nicht entkommen können und ihre einzige Chance in der Odyssee nach Europa sehen.

Wer angesichts dieser vielfältigen und manifesten Ungerechtigkeiten Europa abschotten und diejenigen, die es irgendwie hierher schaffen, mit dem Argument abschieben will, es handele sich ja nicht um “echte” Flüchtlinge, hat nicht nur den letzten Rest moralischer Glaubwürdigkeit verspielt, sondern wird zwangsläufig in heftigste wirtschaftliche und politische Konflikte geraten.

In der Öffentlichkeit wird oft auf die staatliche Entwicklungszusammenarbeit verwiesen, die diese Ungerechtigkeiten ausgleiche, als handele es sich bei diesen Zahlungen um eine Art internationale Sozialhilfe. Angesichts der geringen Höhe und des Ausmasses der Schäden ist dies jedoch so, als würde man das völlig mittellose Opfer eines Raubüberfalls mit ein paar Euro aus der Beute “entschädigen” und stolz auf die eigene Grosszügigkeit verweisen. Dies wird noch deutlicher, wenn man die Höhe der Klimahilfe weltweit dem Bedarf gegenüberstellt (Abbildung unten). Die NATO-Staaten investieren 2% und mehr ihres Bruttoinlandsprodukts (BIP) in die Verteidigung, aber kaum ein Land schafft es, wenigstens die seit langem versprochenen 0,7% für die Entwicklungszusammenarbeit aufzuwenden (siehe Abbildungen unten).

Gesamter zusätzlicher Finanzierungsbedarf für die Bekämpfung des Klimawandels in Entwicklungsländer bis 2030 (aus [8])


Die Militäraufwendungen in fast allen OECD-Ländern übersteigen die Ausgaben für die Entwicklungsarbeit um ein Vielfaches. (Daten jeweils für 2021 aus [9] und [10])

Wir müssen also über Grundsätzliches nachdenken und zu gemeinsamen Lösungen kommen, die über das Herumdoktern an kleinen Symptomen hinausgehen. Der jüngste EU-Kompromiss ist einmal mehr ein solcher. Er wird uns erneut als “Durchbruch” verkauft, als kleinster gemeinsamer Nenner, den immerhin die Mehrheit der Mitgliedsländer (und im Nachgang auch die Schweiz) mittragen könnte. Aber erstens löst er das oben beschriebene Kernproblem überhaupt nicht und zweitens werden ihn zumindest die üblichen Verdächtigen wie Ungarn und Polen am Ende wieder boykottieren (auch wenn dann Zwangszahlungen angedroht werden). Und so stehen wir mit dem Schlechtesten aus allen Welten da: Uneinigkeit, Unzufriedenheit und keine funktionierende Lösung für das Problem. Dabei könnten wir doch einmal Mut zeigen und genau diesen Zeitpunkt als Chance nutzen. Wenn klar ist, dass wir mit geeigneten Massnahmen die bestehenden massiven Ungerechtigkeiten mildern und gleichzeitig etwas für die Erde als Ganzes und auch für uns selbst erreichen können: ja, dann machen wir es doch einfach. Oder versuchen es zumindest einmal!

Schaffen wir endlich funktionierende und ehrlich gemeinte legale Einwanderungsmöglichkeiten nach Europa und bieten gute Integrationshilfen!

Unterstützen wir die Menschen vor Ort, sodass ihre Bedingungen nicht so unerträglich bleiben oder werden! Und zwar mit Programmen und Massnahmen, die ausreichend finanziell ausgestattet sind.

Und fangen wir ernsthaft an, unseren überbordenden CO2-Fussabdruck auf nachhaltige Level zu bringen, damit wir alle auf unserem gemeinsamen Boot Erde noch lange angenehm durch den Weltraum fahren können!


[*] Dieses Bild angesichts sinkender Flüchtlingsschiffe zu verwenden, zeigt den Zynismus und den moralischen Charakter derjenigen, die es benutzen.


Quellen

[1] I. N. Solinsky, “The 2015 Migrant Crisis: An Impact to Germany?,” Liberty University, United States — Virginia, 2022. Accessed: Jun. 14, 2023. [Online]. Available: https://www.proquest.com/docview/2770650049/abstract/52825FAB5FF146BCPQ/1

[2]  A. Getachew, Worldmaking after Empire: The Rise and Fall of Self-Determination. Princeton University Press, 2019. doi: 10.1515/9780691184340.

[3] Reza Moghadam, Olivier Blanchard, Carlo Cottarelli, and José Viñals, “The Implications of the Global Financial Crisis for Low-Income Countries—An Update,” International Monetary Fund, 2009, [Online]. Available: https://www.imf.org/-/media/Websites/IMF/imported-full-text-pdf/external/np/pp/eng/2009/_092809.ashx

[4]  A. Kwa, Power Politics in the WTO, Updated 2nd ed. Bangkok: Focus on the Global South, 2003.

[5]  M. Zürn, M. Binder, and M. Ecker-Ehrhardt, “International authority and its politicization,” International Theory, vol. 4, no. 1, pp. 69–106, Mar. 2012, doi: 10.1017/S1752971912000012.

[6]  R. O’brien, Contesting global governance: Multilateral economic institutions and global social movements, vol. 71. Cambridge University Press, 2000.

[7]  M. M. Krajewski, “Democratic legitimacy and constitutional perspectives of WTO law,” Journal of World Trade, vol. 35, no. 1, 2001.[2] L. Chancel, P. Bothe, and T. Voituriez, “Climate inequality report 2023, Fair taxes for a sustainable future in the global South,” World Inequality Lab (WIL), 2023.

[8] L. Chancel, P. Bothe, and T. Voituriez, “Climate inequality report 2023, Fair taxes for a sustainable future in the global South,” World Inequality Lab (WIL), 2023.

[9] “SIPRI Military Expenditure Database | SIPRI,” 2023. https://www.sipri.org/databases/milex (accessed Jun. 29, 2023).

[10]  “Statistics on resource flows to developing countries – OECD,” 2023. https://www.oecd.org/dac/financing-sustainable-development/development-finance-data/statisticsonresourceflowstodevelopingcountries.htm (accessed Jun. 29, 2023).

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