Bei dem einen oder der anderen ging es vielleicht unbemerkt vorbei, vorletztes Jahr, also 2023, konnte die Welt das 75-jährige Jubiläum eines Meilensteins feiern, der zu der damaligen Zeit fast unglaublich erscheinen musste: die Verabschiedung der allgemeinen Menschenrechte, genauer gesagt der «Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte». Was 1948 angesichts des gerade überstandenen Schreckens des Naziregimes in Deutschland und des 2. Weltkriegs eine bessere, humanere Zukunft versprach, erscheint nach einem Blick in den Zustand der Welt Mitte der 2020er-Jahre vielfach gefährdet.
Zeitgleich konstatieren wir, dass offenbar das gesamte politische Weltgefüge in eine Richtung driftet, in der viele schon erstrittene und erkämpfte Rechte, nicht nur individuelle Menschenrechte wieder aufgegeben werden. Die Grafik unten zeichnet ein düsteres Bild, nach dem die Anzahl der Demokratien in den letzten Jahren rückläufig ist. War also letztlich aller vermeintlicher Fortschritt für die Katz’?


Man kann auch zu einem anderen Schluss kommen. Dazu müssen wir uns zunächst bewusst werden, dass wesentlich mehr Staaten von sich behaupten demokratisch zu sein. Allerdings kommen viele von diesen nicht auf die Liste, weil sie de facto nicht sind. Viele Länder, die sich den Schein einer durch das Volk legitimierten Regierung geben, sind in Wirklichkeit eben doch Autokratien oder gar Diktaturen, weshalb sie nicht gezählt werden. Beispiele fallen einem da sofort ein. Im Jahr 2024 fanden über 40 nationale Wahlen statt – inklusive der Europawahlen, gewissermassen ein Weltsuperwahljahr. Von den betroffenen Ländern sind jedoch laut Klassifikation des Projekts „Varieties of Democracy (V-Dem, v-dem.net)“ nur etwa 20 «elektorale» oder «liberale» Demokratien. Nur diese Staaten figurieren dann auf der Liste der Demokratien. Das erscheint zunächst einmal plausibel. Schliesslich sollte nur Demokratie draufstehen, wo wirklich Demokratie drin ist.
Doch ist es nicht erstaunlich, dass die Scheindemokratien einen solch riesigen Aufwand betreiben, um einen Schein aufrecht zu erhalten, den sie gerade in Autokratien nicht nötig hätten? In Russland sagte beispielsweise der langjährige Putinsprecher Dmitry Peskov nach der Ankündigung seines Ex-Chefs, zur nächsten Präsidentschaftswahl anzutreten, dass «Putin […] nächstes Jahr mit mehr als 90 % der Stimmen wiedergewählt» wird. (www.theguardian.com/world/2023/dec/08/vladimir-putin-to-run-for-russian-president-again-in-march-2024) Trotz des im Voraus festgesetzten Resultats oder gerade deswegen musste in Russland zunächst aufgeräumt werden: Kandidaten (es waren nur Männer), die tatsächlich unabhängig waren, wurden eingesperrt (wie Alexej Nawalny, der kurz vor der Wahl im Straflager starb) oder es wurde sichergestellt, dass sie nur einen minimalen Stimmanteil erhalten, wie Putins ehemaliger Wahlkampfmanager zugab (www.theguardian.com/world/2024/jan/03/vladimir-putin-will-use-election-to-show-war-weary-russia-hes-still-calling-the-shots). Putin initiierte also eine veritable PR- und Propagandaschlacht und versucht zudem, die Wahlbeteiligung mit allen Mitteln hochzutreiben, auf dass er nicht nur eine überwältigende Mehrheit bekomme, sondern möglichst von allen (wahlberechtigten) Russen und Russinnen. Internationale Beobachter bezeichneten die Abstimmung denn auch als weder frei noch fair (auch wenn mit einem Stimmenanteil von gut 87 % und einer Wahlbeteiligung von 77 % das Ziel nicht ganz erreicht wurde: www.themoscowtimes.com/2024/03/18/putin-wins-8728-of-votes-with-all-ballots-counted-election-officials-a84515). Putin inszenierte die Wahl zu einer Propagandaschlacht, die hohe Beteiligung sollte Legitimität suggerieren. Das erinnert nicht von ungefähr an die DDR, wo man sich schon per Staatsnamen als demokratisch definierte – ohne echte Auswahl, dafür mit faktischer Wahlpflicht.
Auch Ägypten, das bereits im Dezember gewählt hatte, ist ein gutes Beispiel. In den zwei vorangegangenen Wahlen hatte Präsident Abdel-Fatah al-Sisi jeweils 97 % der Stimmen geholt, dieses Mal waren es «nur» knapp 90 %. Ganz entsprechend der Anleitung für unfreie Wahlen wurden auch hier alle halbwegs glaubhafte Gegenkandidaten nicht zugelassen und zugleich eine fast wahnhaft anmutende Werbekampagne für Sisi durchgeführt (www.nytimes.com/2023/12/12/world/middleeast/egypt-election-el-sisi.html, www.theguardian.com/world/2023/dec/10/sisi-poised-win-power-egyptians-minds-gaza-election-egypt). Zudem wurden auch dieses Mal wieder Geschenke verteilt, um die Menschen zum Wählen zu bewegen, wobei es zudem eine Wahlpflicht gibt, mit einer (wenn wohl auch nicht häufig tatsächlich zu zahlenden) Geldstrafe bei Unterlassung. Selbstverständlich stehen alle wichtigen Medien des Landes unter absoluter Kontrolle des Regimes.
Das alles schluckt enorme Ressourcen, Zeit und Arbeit, und das meist in Ländern, in denen die Mittel ohnehin knapp sind. Und niemand, auch nicht die jeweils profitierenden Machthaber, erwartet ernsthaft, dass ihnen irgendwer diese Scharade glaubt. Weder ihr (was in vielen Fällen wörtlich zu nehmen ist) Volk, noch das Ausland, das selbstverständlich mit wunderbaren Bildern vom Wahltag versorgt wird. Gleichzeitig haben diese Regime mit ihrem Instrumentarium das Volk so gut im Griff, dass die Gefahr einer echten Umwälzung von unten gering ist, auch wenn man sich natürlich nie sicher sein kann. Warum das Ganze also?
Es scheint, dass allein irgendeine Form von «Demokratie» selbst dort so wichtig ist, dass man, und sei es noch so lächerlich, diese Fassade aufrechterhalten will. Kaum ein Staat traut sich noch, sich als Diktatur zu bezeichnen. Damit geben auch diese Länder implizit zu, dass die wertvollste Herrschaftsform doch jene ist, die sie hassen. Um die Quadratur dieses Kreises zu bewerkstelligen, also der Pomp. Potemkinsche Dörfer sind offenbar besser als gar keine. Denn auch die Menschen in diesen Staaten wollen die Demokratie. Im Democracy Perception Index 2023 (www.niradata.com/dpi) gaben 84 % der Befragten in 53 Ländern an, dass es wichtig sei, dass in ihrem Land Demokratie herrscht. Und nicht verwunderlich wollten die Menschen gerade da mehr Demokratie (was im Detail das auch heissten möge), wo es nach internationalen Massstäben wenig davon gab. Russland ist wieder ein gutes Beispiel. Hier fühlt sich nur eine Minderheit in einer Demokratie und gleichzeitig wünschen sich über 30 % mehr davon. Ganz offensichtlich ist die «Herrschaft des Volks» ein Gütesiegel, mit dem sich auch die undemokratischsten Regierungen schmücken wollen.
Das erfüllt mich mit einer gewissen Hoffnung. Wenn trotz aller nicht zu leugnenden Defizite der real existierenden demokratischen Systeme das Image offenbar immer noch jedem anderen System überlegen ist, dann sollte es auch Kräfte geben, die eine Redemokratisierung weltweit in Bewegung setzen. So wie übrigens, auch da hilft der Blick auf die Grafik, schon einige Male in der jüngeren Geschichte, als nach einem Abgleiten in immer mehr Autokratien die Welt Phasen der demokratischen Erneuerung erlebte.

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