Vom hedonistischen Weingeschmack

Szene 1: Eine gemütliche abendliche Runde, in der Wein getrunken wird. Ein vinophiler Gast bittet darum, die Weine des Abends «blind» eingeschenkt zu bekommen. Nur so könne er den Wein richtig beurteilen.

Szene 2: Im Gespräch mit einer Bekannten entwickelt sich eine Diskussion um die Filmreihe «Rosamunde Pilcher». Sie geben zu, dass Sie diese gern sehen und sie gut finden, doch richtig wohl ist Ihnen bei dem Bekenntnis nicht. Und das schon, bevor Ihre Gesprächspartnerin recht unverhohlen die Nase rümpft und Sie spüren lässt, dass sie einer solche Produktion grundsätzlich die Qualität absprechen würde.

Auf den ersten Blick haben die beiden Szenen nicht viel gemeinsam. Doch das täuscht, denn im Kern geht es in beiden Fällen um ein sehr grundsätzliches Problem, über das PhilosophInnen seit Jahrhunderten diskutieren: Was macht etwas eigentlich «gut», und zwar gut im Sinne von erstrebenswert? Wann also ist ein Wein oder ein Film gut?

Lassen wir die vielen Pilcher-Fans, von denen die meisten ohnehin lieber unentdeckt bleiben wollen, im idyllischen Cornwall und bleiben wir beim Wein. Warum sollte der Gentleman oben den Wein blind besser beurteilen, als wenn er wüsste, was er trinkt? Die Idee dahinter: Je weniger wir beim Verkosten über den Wein wissen, desto unbeeinflusster können wir seine Eigenschaften, d.h. vor allem seinen Geschmack und seine Qualität, erkennen. Also werden die Weine aus verdeckten Flaschen eingeschenkt, auf die Spitze getrieben in komplett schwarze Gläser, so dass man nicht einmal die Farbe des Weines erkennen kann. Übrigens ein sehr lustiges Spiel für einen gemütlichen Weinabend, denn selbst für Kennerinnen ist es nicht einfach, bei gleicher Temperatur einen Weiss- von einem Rotwein zu unterscheiden.

Blind verkostet man also, um die «wahre», objektive Qualität des Wein aufzuspüren. Ganz ungetrübt von externen Faktoren soll also «reiner Wein» eingeschenkt und beurteilt werden, um mal im Bild zu bleiben. Ich frage mich, ob das aus philosophischer Sicht tatsächlich sinnvoll ist und – Spoiler vorweg – bezweifle das mittlerweile stark.

Doch der Reihe nach. Es ist unbestritten, dass äussere Faktoren wie das Wissen um die Herstellungsart (Handarbeit vs. Grossproduktion), Preis, Prädikat usw. die Wahrnehmung eines Weines beeinflussen. Wissenschaftliche Studien zeigen sogar, dass derselbe Weisswein verschieden «schmeckt», wenn er zu Rotwein umgefärbt wird, obwohl der Farbstoff völlig geschmacksneutral ist [1]. Und wohl jede Weintrinkerin hat schon einmal die Enttäuschung erlebt, wenn ihr der aus dem Urlaub mitgebrachte Wein zu Hause längst nicht mehr so gut schmeckt wie damals beim Winzer an einem lauen Sommerabend.

Unter diesem Aspekt gilt also uneingeschränkt: ja, um einen Wein objektiv bewerten zu können, sollte man möglichst wenig «sekundäre» Eindrücke erhalten. Neben der «Erblindung» gibt es oft auch spezielle schallisolierte und komplett kahle Verkostungsräume für Profis. Aber die interessantere Frage lautet doch: Ist eine objektive Bewertung überhaupt sinnvoll? Was ist denn das Kriterium für «guten Wein»? Und für mich ist das eng mit der ganz grossen philosophischen Frage verbunden. Was macht etwas (z.B. das Leben selbst) gut?

Vielleicht etwas naiv würde man beim Wein antworten: «Na, wenn er (mir) schmeckt.» Aber wenn Sie dieses Kriterium einmal gegenüber einer Verkosterin (oder einem Weinnerd) angebracht haben, erhielten Sie wohl als überraschende Erwiderung: «Nein, ob Dir, und dazu noch als unbedarfte Weintrinkerin, der Wein schmeckt, sagt noch nichts über seine Qualität aus.»

Hmm, das erscheint unplausibel, wird aber aufgelöst, indem zwischen dem «persönlichen, subjektiven Geschmack» und einer irgendwie übergeordneten, «objektiven Qualität» unterschieden wird. Ein Wein ist nach dieser Definition also dann gut, wenn er objektiv gut ist, ungeachtet, ob ich ihn persönlich lieber ausspucken möchte.

Was uns natürlich zur Frage führt, wie denn diese objektive Qualität gemessen werden kann. Da es (noch?) keine Maschinen zur Geschmacks- und Geruchsanalyse gibt, ist der Massstab zwangsläufig doch wieder der Mensch (obwohl es vielleicht gar keine so schlechte Idee wäre, mal Hunde oder Schweine, die schliesslich viel besser riechen können als wir, dran zu lassen). Aber das schreckt die Vinophilen nicht, die Weinliteratur ist voll von Kriterien, die trainierte DegustatorInnen angeblich anwenden können, um die wahre Güte des göttlichen Safts aufzuspüren. Da wird z.B. die Komplexität bestimmt und die Länge des Abgangs, die «Typizität» und die Harmonie [2]. Ob und in welchem Masse irgendwer tatsächlich in der Lage ist, das alles ganz unabhängig von seinem persönlichem Geschmack zu bestimmen, mag man getrost bezweifeln. Und ebenfalls in der Literatur finden sich genügend Belege, dass selbst Profis daran scheitern [3], [4], [5].

Aber das Problem geht tiefer, denn selbst wenn es solche «Super-Taster» gäbe, was wäre ihr Wert? Was uns wieder zur obigen Frage führt: «Was entscheidet, ob etwas gut sei?». Wenn ich keinem Menschen und auch der Umwelt nicht (über Gebühr) schade, dann sollte doch mein persönliches Glück, das ich beim Trinken eines Weins empfinde, der Massstab sein. Ultimativ ist es schliesslich das persönliche Glück, das für ein glückliches Leben zählt1. Kenner:innen werden nun mit John Stuart Mill dagegenhalten [6]:

Wer annimmt, dass diese Bevorzugung auf Kosten des Glücks geht – dass das höhere Wesen unter annähernd gleichen Umständen nicht glücklicher ist als das niedrigere —, der verwechselt die beiden sehr verschiedenen Begriffe des Glücks und der Zufriedenheit. Es ist unbestreitbar, dass dasjenige Wesen, dessen Genussfähigkeit gering ist, die grösste Chance hat, sie voll zu befriedigen; und ein hochbegabtes Wesen wird immer spüren, dass jedes Glück, das es in der Welt, wie sie beschaffen ist, suchen kann, unvollkommen ist. Aber er kann lernen, ihre Unvollkommenheiten zu ertragen, wenn sie überhaupt erträglich sind; und sie werden ihn nicht neidisch machen auf das Wesen, das sich der Unvollkommenheiten zwar nicht bewusst ist, aber nur, weil es das Gute, das diese Unvollkommenheiten qualifizieren, gar nicht fühlt. Es ist besser, ein unzufriedener Mensch zu sein als ein zufriedenes Schwein; besser, ein unzufriedener Sokrates zu sein als ein zufriedener Narr. Und wenn der Narr oder das Schwein eine andere Meinung hat, dann deshalb, weil sie nur ihre eigene Seite der Frage kennen. Die andere Partei des Vergleichs kennt beide Seiten.

Demnach gibt es also niedrigeren Genuss (dem Weinlaie schmeckt ein «minderwertiger» Wein) und höheren Genuss (der vom Kenner nach allen Regeln der Weingütebeurteilung als gut befundener Wein). Und nur letzterer zählt wirklich als Glück.

Ich möchte umgekehrt argumentieren, dass es gerade mein Glück vermehrt, wenn mir persönlich der Wein schmeckt, ungeachtet der scheinbar objektiven Qualität. Das heisst nicht, dass mein Glückslevel nicht zunehmen kann, wenn ich mehr über Wein lerne und mehr Vergleichsmöglichkeiten habe, im Gegenteil. Und höchstwahrscheinlich wird sich dann auch mein Geschmack ändern. Doch selbst wenn sich mein Geschmacksprofil dem der WeinexpertInnen annähert, ist die Benchmark noch immer «mein individueller und subjektiver Geschmack».

Kehren wir zum eingangs vorgestellten Gast zurück, der den Wein blind verkosten will.  Auch ich greife zwischendurch auf dieses Spiel zurück, um den Kontext eines Weins auszublenden. Doch grundsätzlich gilt für mich: wenn sich die Geschichte (oder von mir aus auch das Etikett) eines Weins positiv auf mein Glücksempfinden beim Genuss des Weins auswirkt, na umso besser. Es ist gerade ein «Feature» und kein «Bug», wenn mir der «einfachere Riesling» der Kleinwinzerin aus einer unbekannteren Lage an der Mosel so herrlich mundet. Auch wenn die Qualität mit der Erinnerung an unser Gespräch, den gemeinsamen Rundgang durch die Reben und die Degustation im hofeigenen Keller zusammenhängt.


  1. Wohlgemerkt: Das persönliche Glück kann selbstverständlich auch daraus bestehen, anderen Menschen oder Tieren eine Freude zu machen, ihr Leid zu lindern oder einfach grundsätzlich tugendhaft zu sein. ↩︎


Quellen

[1]          G. Morrot, F. Brochet, and D. Dubourdieu, “The Color of Odors,” Brain and Language, vol. 79, no. 2, pp. 309–320, Nov. 2001, doi: 10.1006/brln.2001.2493.

[2]          S. Charters and S. Pettigrew, “The dimensions of wine quality,” Food Quality and Preference, vol. 18, no. 7, pp. 997–1007, Oct. 2007, doi: 10.1016/j.foodqual.2007.04.003.

[3]          R. H. Ashton, “Reliability and Consensus of Experienced Wine Judges: Expertise Within and Between?,” Journal of Wine Economics, vol. 7, no. 01, pp. 70–87, 2012, doi: doi:10.1017/jwe.2012.6.

[4]          R. H. Ashton, “Is There Consensus Among Wine Quality Ratings of Prominent Critics? An Empirical Analysis of Red Bordeaux, 2004–2010,” Journal of Wine Economics, vol. 8, no. 2, pp. 225–234, 2013, doi: 10.1017/jwe.2013.18.

[5]          J.-M. Cardebat and F. Livat, “Wine experts’ rating: a matter of taste?,” International Journal of Wine Business Research, vol. 28, no. 1, pp. 43–58, Jan. 2016, doi: 10.1108/IJWBR-04-2015-0011.

[6]          J. S. Mill, Utilitarismus: Neu übersetzte Ausgabe (Klassiker der ofd edition). BoD – Books on Demand, 2022.

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