Auch wenn die Schweiz nicht so stark betroffen ist wie andere Länder, spüren auch wir die steigende Inflation. Zur Verdeutlichung: Wenn wir von sinkender Inflation sprechen, heisst das nur, dass unser Geld nicht mehr ganz so schnell an Wert verliert. Real wird es aber trotzdem immer weniger. Deshalb ist der Aufschrei wirtschaftsliberaler Kreise bei jeder Forderung nach deutlich höheren Löhnen schlicht zynisch. Selbst wenn es in den nächsten Monaten eine Lohnerhöhung in Höhe der aktuellen Inflationsrate gäbe (zum Zeitpunkt des Schreibens lag sie bei 2,8% gegenüber dem Vorjahr), hätten wir immer noch einen erheblichen kumulierten Reallohnverlust zu verkraften, denn die Verluste der letzten Jahre ohne entsprechenden Teuerungsausgleich sind damit nicht ausgeglichen.
Von den genannten Kreisen wird gerne zur Mässigung aufgerufen, weil höhere Lohnabschlüsse die «Lohn-Preis-Spirale» und damit die Inflation selbst anheizten, so die Argumentation. Letztendlich führten höhere Löhne zu höheren Preisen in der Produktion (und auch im Dienstleistungsbereich). Also sollen höhere Lohnabschlüsse unbedingt verhindert werden und stattdessen setzt man überall auf Leitzinserhöhungen der Zentralbanken. Aber warum sollten die Preise sinken, wenn das Geld gewissermassen «teurer» wird? Um den Zusammenhang zu erkennen, muss man über zwei Stufen gehen. Wenn Kredite teurer werden (weil ihr Zinssatz an jenen der Zentralbanken gekoppelt ist), können und werden Unternehmen weniger investieren. Dadurch sinkt die Nachfrage nach Arbeitskräften, die Arbeitslosigkeit steigt und insgesamt geht es der Wirtschaft schlechter. Damit ist die erste Stufe erklommen. Das wiederum – und das ist die zweite Stufe – senkt die Kaufkraft der Menschen und damit die Nachfrage, was in der Logik der Marktwirtschaft bedeutet, dass am Ende auch die Preise sinken. Man erzeugt gleichsam absichtlich einen wirtschaftlichen Niedergang, weil ärmere Menschen sich die hohen Preise nicht leisten können. Das klingt so hartherzig wie es ist, stellt aber nicht nur das vorherrschende Paradigma in den meisten westlichen Volkswirtschaften dar (siehe z.B. R. Garnaut oder L. Summers), sondern hatte auch eine gewisse empirische Grundlage. So haben die drastischen Zinserhöhungen der Jahre 1980 und 1981 unter Paul Volcker in den USA tatsächlich zu einem deutlichen Rückgang der damals extrem hohen Inflation geführt.
Doch ob diese bittere Medizin heute noch hilft und sinnvoll ist, darf getrost bezweifelt werden. Erstens sind die Nebenwirkungen massiv. So führte der «Volcker-Schock» zur Schuldenkrise in Lateinamerika, weil diese Länder hohe Dollarschulden hatten, die nun immer teurer wurden [1].
Zum zweiten muss man die Inflationsursachen unterscheiden: Entweder gibt es einen Nachfrageüberhang, die Teuerung wird dadurch getrieben, dass Produkte stärker nachgefragt und damit teurer werden (Marktwirtschaft). Oder es gibt andersherum einen Angebotsmangel, d.h. von einigen oder sehr vielen Dingen, die nachgefragt werden, gibt es einfach zu wenig, wodurch sie wieder teurer werden. Es scheint nur eine Frage des Startpunktes auf der Preisspirale zu sein, welchem Problem man nun die Ursache zuschreibt1. Ganz so einfach ist es allerdings nicht, denn einen Nachfrageüberhang kann man einfach dadurch beseitigen, dass man die Nachfrage reduziert, z.B., siehe oben, indem man das verfügbare Kapital verringert. Die Logik der Zinserhöhung würde also zumindest in diesem Fall Sinn ergeben.
Eine Angebotsverknappung hingegen müsste durch eine Ausweitung der Produktion und damit des Angebots kompensiert werden. In der marktwirtschaftlichen Lehre würde in diesem Fall «der Markt spielen», da aufgrund höherer Preise (und damit höherer Gewinnerwartungen) mehr Anbieter in das Spiel einsteigen bzw. bestehende Anbieter in den Ausbau ihrer Produktionskapazitäten investierten. So weit, so plausibel.
In der aktuellen Situation gibt jedoch es einen Haken. Die meisten Ökonom:innen sind davon überzeugt, dass wir es zumindest teilweise mit einem Angebotsdefizit zu tun haben, also mit der zweiten oben angeführten Ursache. Dies erscheint angesichts der gebeutelten Handelsketten und des reduzierten Welthandelsvolumens (insbesondere bei Öl und Gas) einleuchtend. Schliesslich machen die letzten Krisen wie COVID, Handelskriege zwischen dem Westen und China und der Krieg in der Ukraine Unternehmen auf der ganzen Welt schwer zu schaffen. Da die Knappheit somit jedoch struktureller Natur ist, kann das Angebot nicht einfach erhöht werden. Wir können uns kurzfristig weder günstigere Energie noch Technologiealternativen zu bestehenden Halbleiterprodukten herbeizaubern. Langfristig können wir uns hoffentlich von einigen Abhängigkeiten befreien, auch indem wir insgesamt reflektieren, wie viel an Energie und Technologie überhaupt für ein gutes und nachhaltiges Leben notwendig ist. Aber bis dahin ist es noch ein weiter Weg und das Angebot bleibt so lange hinter der Nachfrage zurück. Und dass dies kein Nachfrageproblem ist, wird deutlich, wenn man sich vor Augen führt, dass man schlecht auf essenzielle Dinge wie Nahrung, Energie, Wohnen etc. verzichten kann. Obwohl es bereits viele Anzeichen gibt, dass sogar in reichen Industrienationen wie Grossbritannien ein Teil der Bevölkerung wegen gestiegener Nahrungsmittelpreise hungrig ins Bett geht.
Es gibt aber einen weiteren wichtigen Faktor, der die Inflation nach oben treibt und nichts mit den Löhnen zu tun hat: die Klimakrise. Zunehmend herrscht Konsens darüber, dass ein Teil der Teuerung bereits von ihr getrieben wird, insbesondere bei Nahrungsmitteln (wo die Preissteigerungen mit am höchsten sind). Ernteausfälle durch Dürren, Überschwemmungen und andere klimatische Veränderungen setzen komplexe Mechanismen der Verknappung von produzierten Nahrungsmitteln in Gang. Und es besteht auch eine weitgehende Einigkeit darüber, dass sich diese Effekte mit zunehmender Erwärmung noch verstärken und weiter ausbreiten werden ([2], [3]).
Was lernen wir daraus? Der gegenwärtigen Inflation darf zumindest nicht nur mit immer höheren Zinsen und damit Reallohnverlusten gerade der ärmsten Schichten begegnet werden. Es braucht stattdessen viel gezieltere Massnahmen. Kurzfristig dürfen wir auch vor scheinbaren «No-Gos» des Neoliberalismus wie Preisobergrenzen für lebensnotwendige Güter (Nahrungsmittel, Mieten, Kommunikationsmittel) nicht zurückschrecken. Sonst trifft es auch bei uns wieder vor allem diejenigen, die für die Ursachen am wenigsten können. Schliesslich tragen die Reichen um ein Vielfaches mehr zur Klimakrise bei als die Armen [4]. Mittel- und langfristig werden wir nicht um eine umfassende Transformation der gesamten Wirtschaft herumkommen [5]. Das sollten wir als riesige Chance begreifen. Denn eine solche Transformation könnte nicht nur sinnvollere Massnahmen zur Regelung der Inflation (und damit der Verminderung von Armut) bereitstellen, sondern würde hoffentlich auch die wichtigste Ursache der Klimakrise selbst bekämpfen: das im Kapitalismus verankerte Paradigma des unaufhörlichen Wachstums.
1 Es gibt auch die Kombination aus beiden Effekten.
Quellen
[1] R. Ffrench-Davis, “The great Latin American debt crisis: a decade of asymmetric adjustment,” in Reforming the Reforms in Latin America: Macroeconomics, Trade, Finance, R. Ffrench-Davis, Ed., in St Antony’s Series. London: Palgrave Macmillan UK, 2000, pp. 69–100. doi: 10.1007/978-1-137-04681-9_4.
[2] A. Ellfeldt, “Climate Change Is Exacerbating Inflation Worldwide,” E&E News. https://www.scientificamerican.com/article/climate-change-is-exacerbating-inflation-worldwide/ (accessed Jul. 18, 2023).
[3] J. Schwarz, “The Four Horsemen of Inflation,” The Intercept, Feb. 18, 2023. https://theintercept.com/2023/02/18/inflation-climate-change/ (accessed Jul. 18, 2023).
[4] L. Chancel, P. Bothe, and T. Voituriez, “Climate inequality report 2023, Fair taxes for a sustainable future in the global South,” World Inequality Lab (WIL), 2023.
[5] C. Lapavitsas, J. Meadway, and D. Nicholls, The Cost of Living Crisis: (and how to get out of it). Verso Books, 2023.
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