Doch, möglich wäre es auf jeden Fall …

Einen interessanten Blick auf die Problematik der notwendigen CO2-Einsparung erlaubt folgende «Fingerübung» anhand von Statistiken der Website «our-world-in-data» [1]. Ein Einblick, der mich gleichzeitig hoffen und verzweifeln lässt.

Lassen Sie uns zuerst die Verbindung zwischen dem pro-Kopf-CO2-Verbrauch und dem „Human Development Index“ (HDI) betrachten. Der HDI ist ein Wohlstandsindikator, der neben dem Bruttonationaleinkommen pro Kopf, sondern auch die Lebenserwartung und die Dauer der Ausbildung1 berücksichtigt.

Quelle: [3]

Die rote Linie illustriert das pro-Kopf-Budget, das noch im Einklang mit dem Ziel einer Erwärmung um 1,5°C stehen würde. Diese Grafik offenbart, dass viele Länder diese CO2-Menge zum Teil erheblich unterschreiten, also im Einklang mit den erlaubten Emissionen leben. Der Haken dabei ist jedoch, dass all diese Länder einen HDI aufweisen, der kaum ein angenehmes Leben ermöglicht. Sri Lanka, Panama, Costa Rica und einige kleinere Staaten kommen dem Ideal von etwa 2 Tonnen CO2pro Kopf und einem HDI von mindestens 0,8 am nächsten. Für alle anderen würde das Erreichen dieses Idealzustands entweder (für reiche Länder) eine drastische Senkung der Emissionen bedeuten oder (für arme Länder) eine Steigerung des HDI. Und beide Grössen sind, wie der Graph zeigt, stark miteinander verknüpft. Um diese Korrelation genauer zu untersuchen, tauschen wir die x- und y-Achse.

Daten aus: [4]

Diese Grafik kann man jetzt so interpretieren, dass sie den Verbrauch angibt, den wir aktuell «benötigen», um eine bestimmte Entwicklungsstufe zu erreichen. Das ist natürlich kein Naturgesetz und unter anderem technische Entwicklungen können diesen Zusammenhang massiv beeinflussen. Aber es beleuchtet gut die gegenwärtigen Verhältnisse und lässt uns anhand der gestrichelten Linie erkennen, dass es keine lineare, sondern eine logarithmische Korrelation ist. Und das ist ein gutes Zeichen! Warum? Weil es zeigt, dass man bei steigenden Emissionen immer weniger HDI-Fortschritt erreicht, diese also immer weniger Zuwachs an menschlicher Entwicklung bewirken. Eine erhebliche Reduktion unseres Verbrauchs würde wiederum wenig Einfluss auf unsere Lebensqualität haben. Natürlich rein empirisch betrachtet. Die dazugehörige Formel ermöglicht es uns nun, abhängig von unseren aktuellen Emissionen zu berechnen, welche HDI-Einbussen wir in Kauf nehmen müssten, wenn wir eine bestimmte Reduktion anstreben würden2. Wenn die Schweiz ihren Pro-Kopf-Ausstoss um 50% reduzieren würde, müssten wir lediglich einen Rückgang des HDI von 0,96 auf 0,85 hinnehmen. Das war der Schweizer HDI im Jahr 1996 [2], und niemand würde wohl behaupten, dass wir damals unter unzumutbaren Bedingungen gelebt hätten.

Selbstverständlich ist diese Betrachtungsweise aber zu simplistisch, denn wir können nicht einfach auf der Kurve zurückgleiten. Aber sie zeigt den Spielraum zur Reduktion von Emissionen auf, ohne den Weg in die Steinzeit antreten zu müssen, wie es viele prophezeien.

Eine realistischere Analyse der (wiederum nur empirischen) Möglichkeiten von CO2-Minderungen zeigt sich, wenn wir die Veränderungen im Treibhausbudget seit 2000 mit den Veränderungen des HDI vergleichen. Die entsprechende grafische Darstellung zeigt erfreulicherweise, dass sich innerhalb dieser etwa 20 Jahre sämtliche Länder positiv entwickelt haben, gerade arme afrikanische und asiatische. Zugegeben, der niedrige Startpunkt macht grosses relatives Wachstum einfacher, aber man sollte diese Fortschritte auch nicht kleinreden.

Quelle: [4]

Auf der anderen Seite wird jedoch deutlich, dass diese Entwicklung grösstenteils unter erheblich höheren Emissionen stattgefunden hat, wobei die absoluten Werte im Vergleich zu unseren meist sehr gering sind. Anders ausgedrückt: Selbst eine erhebliche Steigerung erfolgt in diesen Staaten oft noch im Einklang mit den Klimazielen. Dennoch wünschen wir uns Datenpunkte, die möglichst weit unten liegen. Griechenland, Portugal, Guatemala, Südafrika und einige andere Staaten, die alle deutlich unter der horizontalen Nulllinie liegen, zeigen, dass es möglich ist, trotz vergleichsweise guter menschlicher Entwicklung Emissionen einzusparen. Wenn wir jetzt noch kleine Rückschritte im HDI bei den hochentwickelten Ländern zulassen, scheint eine signifikante weltweite CO2-Einsparung durchaus realistisch. Hier findet sich also wieder das bereits festgestellte Ergebnis: Ohne unseren erreichten Entwicklungsstand erheblich herabzusetzen, könnten wir eine Zukunft gestalten, die auch für kommende Generationen lebenswert ist. Wir müssen uns bewusst sein, dass bei einer prognostizierten Erwärmung von über 1,5°C der HDI weltweit (auch bei uns) erheblich sinken wird. In gewisser Weise wird unsere aktuelle Prokrastination also auch in der Währung der menschlichen Entwicklung immer teurer.

Ich möchte nicht unerwähnt lassen, dass der Human Development Index nur ein grober Massstab für ein angenehmes und erfülltes Leben sein kann, denn wie jede vieldimensionale Metrik fasst er ganz unterschiedliche Dinge in einem einzigen Wert zusammen, die man auch ganz unterschiedlich bewerten könnte. Und einige Parameter, die für den Fortschritt unserer Menschheit sehr wichtig sind, berücksichtig der Index gar nicht, wie Ungleichheit oder die Umwelt an und für sich. Doch das erscheint mir wiederum eher vorteilhaft für unseren Gedankengang, denn so ist die Möglichkeit für ein gutes und als gut erlebtes Leben noch grösser. Wir müssen uns nur darüber bewusst werden, was uns wirklich wichtig ist. Schliesslich merken wir doch alle immer mehr, dass materieller Wohlstand (ab einer gewissen Grenze) allein nicht glücklich macht (siehe dazu auch [5]).     

Das alles lässt mich nun optimistisch und verzweifelt zurück: optimistisch, weil sogar so eine einfache Analyse zeigt, dass wir uns nicht gross einschränken müssten, um unsere Klimaziele doch noch zu erreichen. Verzweifelt aber eben auch, weil es (zumindest empirisch) nicht ganz ohne Einschränkungen und Verzicht, also letztlich Wohlstandeinbussen gehen wird. Das lässt mindestens zwei Wege offen: Entweder vertrauen wir weiterhin darauf, dass uns eine grossartige neue Technologie beides bringen wird – Wohlstandswachstum und erhebliche Emissionsreduktionen. Oder wir erkennen endlich, dass wir auch ohne die letzten Dezimalen im HDI (oder anderen Indizes) gut (vielleicht sogar besser) leben können, wenn wir unser Leben und insbesondere unsere Wirtschaft und die dazugehörigen Unternehmen neugestalten. Unsere Nachkommen werden ohnehin dazu gezwungen sein.


  1. Der HDI ist ein zusammenfassendes Mass für die folgende Dimensionen der menschlichen Entwicklung: ein langes und gesundes Leben, gemessen an der Lebenserwartung, eine gute Ausbildung, gemessen anhand der Schuljahre für eine 25jährige Person und der voraussichtlichen Dauer der Ausbildung eines Kindes im Einschulungsalter sowie ein angemessener Lebensstandard, gemessen anhand des Bruttonationaleinkommens. Alle Werte werden auf eine Skala von 0 bis 1 skaliert und daraus das geometrisches Mittel berechnet. Höhere Werte bedeuten eine höhere menschliche Entwicklung. [2] ↩︎
  2. Für SpezialistInnen: Natürlich ist mir bewusst, dass die Korrelationsmodellierung mit R2=0.8 nicht überragend ist. Gerade höhere Emissionswerte werden schlecht modelliert, aber wenn man so will, eher zu unseren Gunsten, denn die Kurve scheint sich nicht nur abzuflachen, sondern sogar wieder zu sinken. Das heisst, ab einem bestimmten Entwicklungsgrad scheint der HDI nicht mehr von höheren Emissionen abzuhängen. Das erscheint durchaus plausibel, denn erstens schlägt auch hier das Prinzip des abnehmenden Grenznutzens zu und zweitens gibt es viele Dinge, die unser Leben zunehmend bereichern und nicht unmittelbar von der Erzeugung von mehr Energie abhängen, wie z.B. Freiheiten und Wissensvermehrung und -verteilung.
    Spasseshalber habe ich die Daten mittels eines neuronalen Netzes modelliert. Damit erhalte ich sogar ein potentielles Einsparvolumen von 73%, das mit einem HDI von mindestens 0.8 kompatibel wäre.
    ↩︎


Quellen

[1]          “Our World in Data,” Our World in Data. Accessed: Jan. 11, 2024. [Online]. Available: https://ourworldindata.org

[2]          U. Nations, “Human Development Index,” United Nations. Accessed: Jan. 11, 2024. [Online]. Available: https://hdr.undp.org/data-center/human-development-index

[3]          B. Herre and P. Arriagada, “The Human Development Index and related indices: what they are and what we can learn from them,” Our World Data, 2023.

[4]          Our World in Data, “Global Carbon Budget (2023); Population based on various sources (2023) – with major processing by Our World in Data. ‘Per capita emissions – Global Carbon Project’ [dataset]. Global Carbon Project, ‘Global Carbon Budget’; Various sources, ‘Population’ [original data].” 2023.

[5]          D. Kahneman and A. Deaton, “High income improves evaluation of life but not emotional well-being,” Proc. Natl. Acad. Sci., vol. 107, no. 38, pp. 16489–16493, Sep. 2010, doi: 10.1073/pnas.1011492107.


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